»reisefieber ://

the hitchhiker’s guide to the galaxy«

Winter 2005/2006
WebArt | Experiment | Konzept
Visuelle Kommunikation
Bauhaus-Universität Weimar
Leitung: Dipl.-Des. Götz Greiner
reisefieber:// Websitenetzwerke:// Website

Die Schaffung von einfachen Netzkunstwerken stand in diesem Projekt im Mittelpunkt. Eine Galaxie, u.a. bestehend aus HTML, CSS und JavaScript, wurde bereist und erforscht, um das Universum Internet an sich als aktiven Bestandteil von Netzkunstwerken zu nutzen und das Medium außerhalb des konventionellen Webdesigns zu erkunden.

WebArt, net.art oder Netzkunst gibt es nicht erst seit der Erfindung des Internets. Schon vorher wurden Kommunikationsnetze wie Post, Telefon oder Fax dafür genutzt, künstlerische Arbeiten zu schaffen. Eine grundsätzliche Voraussetzung sind lokal oder global vernetzte Teilnehmer, die als Konsumenten oder Produzenten an den Werken beteiligt sind, welche sich wesentlich durch Immaterialität und Interaktivität auszeichnen. Das Projekt reisefieber:// beschäftigte sich mit der Erschaffung digitaler Netzkunst, im Gegensatz zur bloßen Präsentation von Kunst im Netz. Ebenso ging es nicht um Webdesign oder Programmierung im konventionellen Sinn, vielmehr stand das Medium Internet im Mittelpunkt und wurde als aktiver Bestandteil für die entstehenden „Netzwerke“ genutzt. Hilfsmittel, die von Programmierern letztlich für Techniker entwickelt worden sind, wurden hier mit künstlerischem Anspruch in Besitz genommen, teilweise gar „zweckentfremdet“, um virtuelle Kleinode zu kreieren.
In Douglas Adams’ „The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy“ ist der gleichnamige Reiseführer für Tramper durch die Galaxis ungefähr das, was das Projekt reisefieber:// für die Studierenden der visuellen Kommunikation und freien Kunst bedeuten sollte: eine Anleitung zur Reise durch das Webuniversum, das sich für viele der Teilnehmer noch nicht annähernd erschlossen hatte – was durchaus eine gute Grundvoraussetzung war, um nicht von technischen Barrieren befangen die Entwicklung der Idee an sich von vornherein zu bremsen.
Die Reise führte die Studenten in unbekannte Gefilde – wobei das in Adams’ Roman erwähnte Kommunikationssystem „Sub-Etha“ – für jegliche (!) Art Datenübertragung innerhalb der Milchstraße – nicht nur fiktiv zur Reise beitrug, sondern in Form des kollaborativen Quelltext-Editors „SubEthaEdit“ zum wichtigen Werkzeug im Entstehungsprozess der Webkunstwerke wurde. HTML, CSS, JavaScript und PHP mögen zwar Fremdsprachen mit jeweils eigener Syntax und Grammatik sein, TCP/IP und WYSIWYG sich erst einmal kryptisch anhören, doch der Umgang mit all diesem wurde für die Studenten unabdingbar. Die im Einzelnen schon sehr komplexen Bausteine des Internets wie Struktur-, Gestaltungs- und Programmiersprachen, „Plain-Text“ und „What-You-See-Is-What-You-Get“ Editoren, mussten schließlich noch geschickt zu inhaltlich wie technisch funktionierenden Objekten verwoben werden, was für nicht aus dem technischen Milieu stammende Gestalter eine echte Herausforderung darstellen kann.
Sich diese Welt mittels künstlerischer Freiheit und Konzept zu erschließen, war für die Künstler und Gestalter ein wichtiger Schritt für das zukünftige Arbeiten, auch auf der Ebene des klassischen Webdesigns. Die Studenten können nun auf ein Grundverständnis zurückgreifen, das es ihnen ermöglicht, ihre konzeptionellen und gestalterischen Ideen im Bezug zur technischen Umsetzung auszureifen. Sie sollten bis zu einem gewissen Grad mit der Arbeit eines Programmierers vertraut sein – ebenso wie umgekehrt –, damit eine Zusammenarbeit unkompliziert und fruchtbar sein kann, denn wer grundsätzlich voneinander verschiedene Sprachen spricht, redet trotz Babelfish aneinander vorbei.
Theoretische Hintergrundinformationen lieferten studentische Referate, u.a. über die Entwicklung von Computern und die Geschichte des Internet, über neu entstandene Kunstformen und ihre Verwandtschaft zu „analogen“ Pendants wie der Aktionskunst und Beispiele bekannter Netzkünstler (u.a. Heath Bunting, Olia Lialina und On Kawara). Neben der konzeptuellen Erarbeitung der Ideen im Plenum waren auch intensive technische Lehreinheiten Bestandteil des Projektes. In einer Art integriertem Fachkurs wurden den Studenten die Grundlagen der notwendigen Techniken, Programmiersprachen und Weiterentwicklung vermittelt. Neben rein technischen Übungen entstanden kleinere inhaltlich-experimentelle Arbeiten zu den Themen Monotonie, Muster, Relevanz, Rekursion und Reaktion.
Diese erreichten eine Vielfalt an Lösungsmöglichkeiten, von eintönigen oder gar sehr belebten Plattenbauten, über amüsante Gesichterkombinatoren, steuerbare polylinguale Kanongesänge, bunte Muster- und verrückte Sprichwort-Generatoren, bis hin zu einem fensterbasierten Autorennen, einer in Echtzeit verrinnenden ASCII-Sanduhr, einer sich schicksalhaft immer neu schreibenden Geschichte und einem nicht unbedingt monotonen Adventskalender.

Die finalen Arbeiten beschäftigten sich schließlich mit dem Thema Reisefieber selbst. Im Folgenden sollen einige davon exemplarisch vorgestellt werden. Alle reisefieber:// Arbeiten im Netz

„Postillion“ · Ina Hattenhauer und Katherine Landgrebe

Die Kontaktaufnahme mit Fremden und dem Unbekannten wird schon seit ewigen Zeiten mit Hilfe von Flaschen- oder Ballonpost praktiziert. Ina und Katherine haben dies in eine digitale Plattform übersetzt, auf welcher der Internetnutzer die Nachricht eines anderen finden und selbst Mitteilungen per Ballon oder Flasche auf die Reise in die unendlichen Weiten des hyperspace schicken kann. Als Kritik an der durch Email, Chatrooms, Foren und personalisierbare „Web 2.0“ Anwendungen boomenden Massenkommunikation ist „Postillion“ ein ruhiger und zurückhaltender Bereich, der es beispielsweise vorsieht, jede losgelassene Mitteilung nur einmal auffindbar zu machen. Die Möglichkeiten der Reaktion des Finders sind dann direkt vom Verfasser selbst abhängig – es gibt wie in der realen Welt keinen direkten „Antwortknopf“, sondern nur die Information, die in der Nachricht vermerkt ist.

„Märchenland“ · Henrike Hiersig

Wer hat sich als Kind nicht über ein Märchen zur guten Nacht gefreut? Henrike beschäftigte sich in ihrer Arbeit mit den Märchen der Gebrüder Grimm und musste feststellen, dass in fast ausnahmslos allen Erzählungen sehr grausame Begebenheiten enthalten waren. Sie malte sich aus, wie wohl eine Reise in das Märchenland aussehen würde, in dem außer Bestrafungen und Misshandlungen kaum andere Mittel zur Erziehung und Beeinflussung angewandt würden. Das Resultat war eine große Landkarte, die sich mit der Computermaus bereisen lässt, und auf der ein Großteil der Grimmschen Märchen im wahrsten Sinne des Wortes zu finden ist – man muss sie nämlich zunächst suchen. Thematisch passende Icons, die sich nach dem Lesen in blutgetränkte Zeichen verwandeln, führen zu den Texten mit ihren grausigen, blutrot eingefärbten Passagen, die man im Rahmen der Gute-Nacht-Geschichte besser überspringen sollte, um dem Kind Albträume zu ersparen.

„Schwindelfrei“ · Steffen Petermann

Dicht an eine klassische Reisebüro-Website angelehnt, führt Steffen die Erwartungshaltung des Last-Minute-Individual-Reisenden ad absurdum. Reisen, die heute ständig und im Überfluss verfügbar sind, produzieren im Touristen den Wunsch nach noch mehr Abenteuer, noch mehr Individualismus. Da die Ziele begrenzt und weiße Flecken auf der Landkarte verschwunden sind, gibt es nur einen Ausweg: die Phantasie. Aus einer reichen Datenbank mit Bildern, Wort- und Kartenbestandteilen, Sprachen, Währungen etc. wird dem Schnäppchen-Individualisten bei jedem Klick ein wahrhaft neues und unbekanntes Reiseziel generiert.

„Schicksal“ · Katherine Landgrebe

Tagtäglich kann man Menschen in der U‑Bahn treffen. Manchmal hat man seltsame, manchmal lustige oder gar erschreckende Begegnungen. Dies hängt größtenteils von demjenigen ab, dem man gegenüber sitzt. Oder von einem selbst? Mit der Frage, wie relevant im Hinblick auf das Schicksal es ist, welcher Herkunft, welchen Geschlechts oder Alters jemand ist, hat sich Katherine in ihrer rein auf Text basierten Arbeit beschäftigt. Auf den ersten Blick erscheint es, als sei der Verlauf der immer wieder aufs Neue generierten Geschichte von einzugebenden Parametern des Alters, Geschlechts und Aussehens etc. abhängig. Nur auf den zweiten Blick kann man herausfinden, dass die zufällig zusammengestellten Textbausteine bezüglich der Personenbeschreibung tatsächlich aus diesen Attributfeldern herausgelesen werden, im Hinblick auf den Verlauf der Geschichte jedoch unabhängig von diesen Parametern funktionieren, denn schon viele haben sich mehr oder minder erfolglos auf die Suche nach der Antwort auf die Frage „Zufall oder Schicksal?“ begeben.

Mein Fachkurs „Internet Experimentell“ und der Workshop „Home sweet home“ hatten sich bereits in vorangegangenen Semestern mit der Schaffung experimenteller Internetkunstwerke beschäftigt. Die entstandenen „Netzwerke“ und Referate aus allen Kursen sowie eine umfangreiche kommentierte Linksammlung zu Netzkunst werden auf der netzwerke:// Website präsentiert.

Einige Arbeiten sind als eingereichte Beiträge im vom MARS-Exploratory Media Lab des Fraunhofer-Instituts für Medienkommunikation ausgeschriebenen Wettbewerb studentischer Medienprojekte digital sparks 06 vertreten.

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© Götz Greiner 2007