Die Arbeit »Inventur« thematisiert die Absurdität des Lebens und Überlebens im Atombunker. Sie zeigt ein künstliches Idyll – im brisanten Kontext erschreckend skurril –, ein großes Ausmaß logistischer, politischer und sozialer Bedeutung. Eine Dokumentation, die den Führungsbunker des Ministeriums für Nationale Verteidigung der DDR künstlerisch erforscht.
Der Umgangston ist schon etwas rau – nicht unfreundlich, eher „entertaining“, wenn ich es mir in dieser Situation überhaupt erlauben darf, einen Anglizismus zu verwenden. Die „Genossinnen und Genossen“, die uns durch den DDR-Führungsbunker des Ministeriums für nationale Verteidigung in Harnekop bei Berlin leiten, lassen die alten Zeiten wieder aufleben, scherzhaft kommandierend halten sie die Schäfchen beisammen. Statt Eintrittskarten gibt es Begrüßungsgeld – Ostmark auf Papier gedruckt. Es lebe die allseits und immer wieder beliebte Ostalgie.
Im überirdischen Kasernengebäude, das während der Bauzeit des Bollwerks gegen die Bedrohung der imperialistischen Atommacht USA zur Tarnung diente, staunen wir über die farbenfroh geblümte Tapete – den Suppenlöffel in der einen und die Bockwurst in der anderen Hand. Sie wird uns noch öfters begegnen, die Tapete. Unten. In den verschiedensten Dessins.
Ein Erlebnisausflug in eine bedrückende Vergangenheit, die für den Moment wie in einem Ferienpark zur Unterhaltung des Besuchers aufgebaut wirkt, aber doch so real ist. Ich spüre Macht, Beklemmung, Größenwahnsinn.
Von außen sieht man nicht viel. Gut getarnte Lüftungsschächte, Lagerhallen in Camouflage, elektrische Zäune (gut durch Bäume und Gesträuch verdeckt)… Im Ernstfall hätten die 450 Mann bezüglich des Lebensmittelvorrats vier Wochen lang, bei hermetischer Abriegelung nach Atomschlag nicht einmal zwei Tage überlebt, und doch bis zum bitteren Ende für den Erhalt der Deutschen Demokratischen Republik gekämpft. Auf unserem Streifzug sollen wir später immer wieder in Form gelblicher Blechkanister, die man auf den ersten Blick für kleine Kohleöfen hätte halten können, daran erinnert werden: Diese Komplekte-Kanister waren in der Lage, „auf magische Weise“ Sauerstoff für 36 Stunden pro Person freizusetzen. Glücklicherweise müssen wir nicht durch radioaktives Laub streifen. Bei biologischer oder chemischer Verseuchung hätte man uns beim Eintritt in den Bunker (im Bestätigungsdokument vor dem Bau hieß er zur Tarnung noch „Flugwetterstation“) durch eine Dekontaminationsstrecke geschleust (rote Pfeile für „verseucht“, weiße Pfeile für „sauber“), doch das bleibt uns erspart und wir können einigermaßen beruhigt die schwere Schleusentür hinter uns schließen.
Sie haben es sich gemütlich gemacht, die Genossen. Hauptsache es erinnert nichts an das, was draußen ist. Die eigene kleine Welt hat keine Fenster, denn sie liegt 30 Meter unter der Erde, von der Außenwelt durch 3 m dicke Wände abgeschottet. Sie hätte einer Atombombe, die gleich nebenan eingeschlagen wäre, standgehalten. Dort unten war für alles gesorgt, schließlich sollte man sich wie zu Hause fühlen. Die Kantine hält für den Besucher von heute farbenfrohe originalgetreue Thermoskannen neben „Plaste“blumen drapiert bereit. Hier mag die Authentizität durch nachträgliches Arrangement etwas leiden, doch der Blick schweift unweigerlich weiter auf das ausgetrocknete alte Aquarium in der Zimmerecke und die idyllische Landschafts-Fototapete, die nicht nur durch das sie anstrahlende Neonlicht skurril, unwirklich und künstlich erscheint. Es wäre alles fast wie zu Hause, würden wir nicht bei jedem etwas festeren Schritt dieses seltsame Schwingen des Fußbodens bemerken, der eine immense Erschütterung – z.B. hervorgerufen durch die Detonation einer 150 Kt Bombe – ohne Probleme abgefedert hätte, denn der Boden des kompletten Bauwerks ist auf großen Stahlfedern schwingend gelagert. Auch wurden zerbrechliche Konserven in einem an Federn aufgehängten begehbaren Kühlschrank aufbewahrt. Natürlich wäre auch der (damals) hochmodernen Technik nichts geschehen, so dass man den Kontakt zur Außenwelt nicht verloren hätte. Schaltzentralen, gewaltige und exklusive Computertechnologie zum Speichern von statistischen volkswirtschaftlichen Daten, mit Fernsehern ausgekleidete Konferenzräume und immer wieder Telefone begegnen uns auf der Reise. Das wichtigste Telefon befindet sich im Büro des Ministers selbst. Man nennt es scherzhaft – wenn auch nicht ganz treffend – „rotes Telefon“, das legendäre Kommunikationsgerät, mit dem der Minister die Direktverbindung nicht zum Feind, immerhin jedoch zum Oberkommando der Armeen der Warschauer Vertragsstaaten aufnehmen konnte. Hier ist also der Brennpunkt, hier wurden die Entscheidungen getroffen, hier waren die Mächtigsten zu Gast. Da ist es wichtig, die richtige Ausstattung zu haben: Kleiderbügel, Aschenbecher, Auslegware … – dies macht uns die Inventarliste an der Tür deutlich.
Geblendet durch Plastikblumen und schrille Tapeten, überwältigt von der Durchdachtheit und Perfektion des Bauwerks und mit einer leichten Übelkeit im Hinblick auf das, was einmal war, verlassen wir schließlich die Katakomben, um wieder frische Luft und Tageslicht zu genießen. Hier draußen ist alles noch viel unwirklicher. Nichts ist zu erkennen von dem „da unten“. Gänsehaut bleibt beim Gedanken an menschlichen Wahnsinn und an einen roten Knopf – nicht den des Telefons –, der alles verändern kann.
Die Fotoarbeit beschreibt in drei Ebenen den Blick auf eines der bestgehüteten Staatsgeheimnisse der DDR. Jedes Bild für sich betrachtet zeigt einen objektiven Ausschnitt des Bunkers Harnekop. Die Verknüpfung zwischen den einzelnen Fotografien der Serie birgt jedoch vielfältige Möglichkeiten der subjektiven Interpretation des „Objektes 16/102“. Sie erzählen eine Geschichte – wie es war, wie es hätte sein können. Es sieht friedlich aus.
Sieben kleine Bilder leiten den Blick des Betrachters durch das Außengelände über dem Bunker. Sieben mittelgroße Fotografien des Interieurs geben einen scheinbar objektiven Einblick in die Räumlichkeiten des Bunkergebäudes, deren 70er Jahre DDR-Charme sich in den naturfarbenen Holzrahmen der Bilderserie widerspiegelt. Geteilt werden die beiden Reihen durch drei große Bilder, plakativ und räumlicher Tiefe entbehrend. Sie zeigen eine großgeblümte Tapete, ein Inventarverzeichnis und ein romantisch-kitschiges Landschaftsposter. Diese Elemente finden sich in den Bildern der unteren Reihe wieder. Der lebenserhaltende Komplekte‑Kanister neben Kunstblumenstrauß vor Blumentapete, die Hohe Tatra in der Kantine, die Inventarliste im heimeligen Büro des Ministers. 6 Arbeitssessel, 1 Fernsehtisch, 1 Konferenztisch – Sonderanfertigung, 37m2 Auslegware, 2 Deko-Stoff, 0 Stehlampen, 1 Schreibtisch – Sonderanfertigung, 4 (bzw. 0) Kartenständer, 1 Arbeitsdrehsessel – Sonderausführung, 7 Kleiderbügel, 11m2 Bühnenverhangstoff und 1–3 Aschenbecher – von 1981 bis 1987 gelistet und verwaltet – zeigen eine skurrile Akribie auf. Hier wird eine Wirklichkeit dokumentiert, die mit „normalen“ Maßstäben nicht zu messen ist, denn wie sieht schon die Wirklichkeit eines Menschen aus, der im Atombunker sitzt?
Die Arbeit wurde im Jahr 2006 an der Europäischen Kunstakademie in Trier und zur ORBIT 2006 in Weimar ausgestellt.
Das Hauptbauwerk wurde in der höchsten realisierbaren Schutzklasse A geplant und gebaut. Im Lastfall I sollte das Spezialbauwerk Beton brechenden Bomben widerstehen. Im Lastfall II sollte das Bauwerk funktionsfähig bleiben, wenn eine Kernwaffe von 150 Kt in 400 m vom Bauwerk detoniert. Auch gegen biologische und chemische Verseuchung sollte der Bunker einen gewissen Schutz bieten. Hierfür war eine großräumige Wasch- und Schleusenanlage eingerichtet. Lebenswichtige Güter wurden für 4 Wochen eingelagert. Die Klimaversorgung war in drei Regimen/Betriebsweisen möglich: Normalbetrieb, Filterventilation und vollständige Hermetisation. Die Sauerstoffversorgung durch Komplekte-Kanister bei vollständiger Abdichtung und maximaler Belegung von 450 Personen betrug lediglich 36 Stunden. In der Bunkeranlage wurde pro Person ein solcher Kanister bereitgehalten. Am 30. Juni 1971 unterschrieb der damalige Verteidigungsminister, Armeegeneral Hoffmann, das militärische Bestätigungsdokument zur Errichtung der Hauptführungsstelle des Ministeriums für Nationale Verteidigung, GVS-Nr. A 156 464. Die Bauzeit betrug fünf Jahre.