Camera Movis

Bilderserien

Serien:
Radfahrer: 3 s/w Fotografien 40 x 41 cm
U-Bahn: 1 s/w Fotografie 70 x 72 cm, 4 s/w Fotografien 40 x 41 cm
Ostsee: 1 s/w Fotografie 70 x 72 cm, 3 s/w Fotografien 40 x 41 cm
Akt: 3 s/w Fotografien 60 x 62 cm, 5 s/w Fotografien 40 x 41 cm
Tanz: 5 s/w Fotografien 40 x 41 cm
Selbstportrait: 1 s/w Fotografie 70 x 72 cm, 5 s/w Fotografien 40 x 41 cm
Baryt/PE-Handabzüge, Epsilon Ausbelichtungen, Pigment-Inkjet-Prints
1996–1998 | 2006–2007
Kamera-Theorie…

»Camera Movis« bezeichnet ein Unternehmen, das die technische Entwicklung eines zum Patent angemeldeten Kameratyps und die Entstehung einer neuen Art von Fotografie umfasst. In Zusammenarbeit mit Markus Schlaffke entstand eine Kamera, die in der Lage ist, Raum, Zeit und Bewegung in Bildern einzufangen, die „bewegungsscharf“ sind.
Zu sehen sind Metamorphosen von bewegten Körpern. Gestochen scharf und gleichzeitig deformiert, wirken sie auf den ersten Blick wie Geister, die nur durch digitale Bildbearbeitung zum Leben erwacht sind. Doch tatsächlich handelt es sich um analoge Fotografie, bei der die Aufnahmetechnik der Bewegung des Objekts angepasst werden kann und somit der Vorgang einer Bewegung in einem Bild sichtbar wird.

Funktion und Wahrnehmung

Im Zeitraum von vier Monaten wurde eine Kamera entwickelt, die es ermöglicht, das Filmbild einerseits punktuell sehr kurz, andererseits zur gleichen Zeit aber auch lange zu belichten. Zwischen Objektiv und Filmebene befindet sich ein beweglicher Schlitz, durch den hindurch der Film belichtet wird. Diese punktuelle Belichtung schaltet die sonst so typische Bewegungsunschärfe aus. In der Qualität analoger Fotografie ermöglicht diese spezifische Kamera durch das langsame Abtasten einer Situation die detailgenaue Abbildung von Bewegung in einem einzigen Bild, veränderliche Prozesse lassen sich so innerhalb einer einzigen Darstellung untersuchen und nachvollziehen. Gleichermaßen wird die herkömmliche Wahrnehmung des Betrachters verstört. Die durch Bewegung verformten Objekte konfrontieren mit einer neuen Bildwelt: Im zweifachen Sinn metamorph erscheint in der Entschlüsselung der Darstellung das Erblicken der Fotografie als sich wandelnder Prozess der eigenen Wahrnehmung.

Technik

Während eine traditionelle Kamera bei kurzer Verschlusszeit nur einen singulären und unbewegten Moment einer Bewegung einfängt, kann die Camera Movis aufgrund des schmalen, sich verhältnismäßig langsam bewegenden Schlitzes wirklich Bewegung abbilden. Die Geschwindigkeit des Schlitzes ist dabei in mehreren Stufen variabel. Prinzipiell ist der Schlitz sehr schmal (1/10 mm) und die mögliche Zeit für ein Bild reicht von einer halben Sekunde bis hin zu acht Sekunden. Für die als Modulsystem entwickelte Kamera sind verschiedene Schlitzmodule als Erweiterung angedacht. So gibt es einen sich linear bewegenden Längsschlitz, es kann aber beispielsweise auch ein auf einer Scheibe angebrachter rotierender Schlitz oder ein Spiralschlitz zum Einsatz kommen. Die Wahl des Schlitzes und die Geschwindigkeit hängen dabei von der Bewegung des zu fotografierenden Objekts ab. Erreicht werden kann damit ein Bild, das trotz Langzeitbelichtung und bewegten Formen scharf wird. Je nach Richtung und Komplexität der Bewegung zeichnen sich die fotografierten Objekte durch bisher ungesehene Deformationen im Raum aus.
Weitere technische Informationen zur Camera Movis…

Metamorphosen

Besonders interessant sind die entstehenden Metamorphosen eines menschlichen Körpers in Bewegung. In der U-Bahn-Serie sind Menschen abgebildet, die in Züge ein- und aussteigen. Eine normale Kamera würde bei den zur Verfügung stehenden Verschlusszeiten die Menschen nur unscharf und bis zur Unkenntlichkeit verwischt wiedergeben. Mit der Camera Movis hingegen entsteht eine völlig neue Wahrnehmungsform der sich bewegenden Körper. Mit einer Verschlusszeit von acht Sekunden lässt sich der gesamte Vorgang des Aussteigens in ein Bild fassen. Die menschlichen Körper ziehen sich in diesen Bildern durch die Laufbewegung und die zeitlich versetzte Belichtung des Bildes in die Länge. Die U-Bahn selbst bleibt durch die Nicht-Bewegung undeformiert und bedient unsere gewohnte Sehweise. Die aussteigenden Menschen hingegen nehmen eine neue Form an. Fast fluchtartig scheinen die Körper aus der U-Bahn hinauszuströmen, die Köpfe schon viel weiter von der U-Bahn entfernt als die Füße, die gerade erst hinaustreten.
Andere Bewegungsarten sind in den Selbstportraits dokumentiert. Wird der Kopf einfach still gehalten, entsteht ein gewöhnliches Portrait. Wird allerdings der Kopf von rechts nach links gedreht und gleichzeitig der sich linear bewegende Längsschlitz zur Belichtung benutzt, verzieht sich der Kopf in sich. Bei Wahl einer anderen Geschwindigkeit und Richtung des Schlitzes befindet sich die Nase plötzlich neben dem Gesicht.

Medienspezifik

Anhand dieser Experimente wird deutlich, dass Fotografie – wie andere bildgebende Techniken auch – stets eine Auseinandersetzung mit dem Sehen und der Wahrnehmung beinhaltet. Die Fotografie ist ein Medium, das uns ermöglicht, unsere Welt auf spezifische Weise wahrzunehmen. Das trifft in besonderem Maße auf die Camera Movis und die mit ihr gemachten Bilder zu. Entgegen bisheriger Fotografie erzeugt die Camera Movis nicht eine Realitätsillusion, sondern es wird etwas sichtbar gemacht, was mit unseren natürlichen Sehorganen nicht sichtbar ist: unzerlegte Bewegung. Die Camera Movis gibt uns mehr von der Welt, etwas, was wir bisher nicht wahrgenommen haben.
Schon Muybridges Erfindung der Chronofotografie gab uns die Möglichkeit, mehr von der Welt wahrzunehmen. Er wies nach, dass das Pferd im Galopp an einem bestimmten Punkt alle Hufe in der Luft hat. Muybridge beeinflusste damit nicht nur bildende Künstler, sondern wurde mit diesen Aufnahmen zu einem wichtigen Vordenker zur Entwicklung des Kinos. Doch aus einem Diktum der Fotografie konnte sich Muybridge damals nicht befreien: immer nur einen Moment in einem Bewegungsablauf scharf abbilden zu können. Das Pferd galoppierte entweder in Wirklichkeit oder nur im gedanklichen Zusammenfügen der Einzelbilder. Fotografische Aufnahmen waren seit der Erfindung der Fotografie dazu verdammt, nur einen Moment bewegungsscharf festhalten zu können. Die Camera Movis befreit aus diesem Diktum und erweitert so das Wesen der Fotografie.
Es offenbaren sich dabei die Metamorphosen von Objekten unter dem Einfluss von raumzeitlichen Veränderungen. Die Fotografien der Camera Movis sprengen damit gewohnte Sehmuster und sind eine Einladung, die Welt anders wahrzunehmen und neue Wahrnehmungsformen zu denken.

< • • • >

© Götz Greiner 2007